Samstag, 18. April 2015

„Wir lassen Menschen verhungern“



Jean Ziegler, ehemals UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, spricht im  bpb:magazin über den Hunger in der Welt, das Diktat der Großkonzerne, die „Waffen“ der Demokratie, und sein Buch:

„Wir lassen sie verhungern – Die Massenvernichtung in der Dritten Welt“

„Das Buch ist eine Abrechnung. 
Ich war von 2000 bis 2008 der erste UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Das Buch ist die Bilanz meiner Erlebnisse. Es hat drei Dimensionen. Erstens kann ich endlich sagen, wer die Halunken sind in den Konzernetagen und in den Präsidentenpalästen, die ich besuchen musste. Auch wo ich verraten habe. Ich habe unglaubliche Hoffnung geweckt, zum Beispiel in Guatemala unter den halb verhungerten Maya-Bauern. Die haben geglaubt, jetzt kommt die Agrarreform, weil ich das versprochen habe. Dann wurde meine Empfehlung sabotiert vom amerikanischen Botschafter in der UNO-Generalversammlung. Und drittens ist es trotz des Titels „Wir lassen sie verhungern“ ein Buch der Hoffnung.



Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 57000 Menschen sterben pro Tag an Hunger. Eine Milliarde Menschen sind permanent schwerst unterernährt. Und das auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt. Der World Food Report der UNO sagt, dass die Weltlandwirtschaft heute problemlos fast 12 Milliarden Menschen, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung, ernähren könnte.




 


Es gibt den strukturellen Hunger.

Das ist das tägliche Massaker. Dieser Hunger ist implizit in der Unterentwicklung der Länder des Südens. Der unsichtbare Hunger, der jeden Tag Menschen vernichtet aufgrund der ökonomischen Unterentwicklung. Der Hunger, die Unterernährung und die unmittelbaren Folgen sind bei Weitem die wichtigste Todesursache auf diesem Planeten.

Dann gibt es den konjunkturellen Hunger.

Das ist der sichtbare Hunger. Der passiert, wenn eine Wirtschaft plötzlich implodiert durch Krieg wie in Darfur oder durch Klimakatastrophen wie jetzt am Horn von Afrika oder im Sahel-Gebiet. Das sind die sogenannten Hungersnöte. Dies erscheint dann kurz im Fernsehen. Kinder in Darfur, die sich nicht mehr auf den Beinen halten können, oder die hungernden Mütter mit halbverdorrten Kindern auf den Armen im Niger oder in Mali. Dieser konjunkturelle Hunger kommt zusätzlich zum täglichen Massaker.

Dazu kommen noch die Hungersnöte, und diese in immer schnellerem Rhythmus. Dabei gibt es zu Beginn dieses Jahrtausends keinen objektiven Mangel mehr. Wer jetzt am Hunger stirbt, wird ermordet.

Die Mechanismen, die für dieses tägliche Massaker verantwortlich sind, sind vielfach:

Die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel,
die EU-Dumpingpolitik in Afrika,
der Landraub,
dann die Überschuldung der meisten Entwicklungsländer, die Investitionen in ihre eigene Landwirtschaft verhindern.
Und letztlich der Agrartreibstoff. 

Unter dem Vorwand des Klimaschutzes haben zum Beispiel die USA letztes Jahr 138 Millionen Tonnen Mais und hunderte Millionen Tonnen Getreide verbrannt, um Bioethanol und Biodiesel herzustellen. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dazu kommt: Die Produktionsmethode von Bioethanol ist total umweltschädigend. Die Herstellung eines Liters Bioethanol erfordert 4000 Liter Wasser und setzt Unmengen CO2 frei.

Finanzkrise und Hunger in der Welt:

2008, 2009 hat der Banken-Banditismus riesige Vermögenswerte an den Finanzmärkten vernichtet.
Dann sind die Hedgefonds und Großbanken umgestiegen auf die Rohstoffbörsen. Sie machen dort ganz legal astronomische Profite mit Mais, Getreide, Reis. Mit Wetten auf den Preisanstieg.
Die Finanzkrise hat zu massiver Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel geführt, damit zur Preisexplosion, die weitere Millionen Menschen zu Opfern von Hunger macht. Die zweite unmittelbare Folge der Finanzkrise ist: Die Staaten des Westens haben Milliarden Euros und Dollars einsetzen müssen, um ihre Banken zu retten.
Die europäischen und amerikanischen Beiträge an das World Food Programme, das für die humanitäre Soforthilfe zuständig ist, wurden gekürzt oder gestrichen. Das Budget des World Food Programme lag früher bei 6 Milliarden Dollar, heute sind es noch 2,8 Milliarden.

Die Konzerne diktieren ihr Gesetz auch den demokratischen Staaten des Westens. Sie funktionieren nach Profitmaximierung. Es herrscht eine kannibalische Weltordnung. Zehn weltumspannende Konzerne kontrollieren 85 Prozent der weltweit gehandelten Grundnahrungsmittel. Diese Konzerne entscheiden, wer isst und lebt oder wer hungert und stirbt.

Die Frage von Leben und Tod ist die nach dem Zugang zur Grund-Nahrung und nicht nach der Produktion der Nahrung.



„Die weltweite Getreideernte umfasst rund 2 Milliarden Tonnen pro Jahr. Über 500.000 werden den Nutztieren der reichen Nationen verfüttert – während in den 122 Ländern der Dritten Welt pro Tag nach UNO-Statistik 43.000 Kinder am Hunger sterben.




Diesen fürchterlichen Massenmord will ich nicht mehr mitmachen: kein Fleisch zu essen ist ein minimaler Anfang.“ 

„Ein Kind, das heute am Hunger stirbt, wird ermordet.“







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