Jean Ziegler, ehemals UNO-Sonderberichterstatter für das
Recht auf Nahrung, spricht im bpb:magazin
über den Hunger in der Welt, das Diktat der Großkonzerne, die „Waffen“ der
Demokratie, und sein Buch:
„Wir lassen sie verhungern – Die Massenvernichtung in der
Dritten Welt“
„Das Buch ist eine Abrechnung.
Ich war von 2000 bis 2008 der
erste UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Das Buch ist die
Bilanz meiner Erlebnisse. Es hat drei Dimensionen. Erstens kann ich endlich
sagen, wer die Halunken sind in den Konzernetagen und in den
Präsidentenpalästen, die ich besuchen musste. Auch wo ich verraten habe. Ich
habe unglaubliche Hoffnung geweckt, zum Beispiel in Guatemala unter den halb
verhungerten Maya-Bauern. Die haben geglaubt, jetzt kommt die Agrarreform, weil
ich das versprochen habe. Dann wurde meine Empfehlung sabotiert vom
amerikanischen Botschafter in der UNO-Generalversammlung. Und drittens ist es
trotz des Titels „Wir lassen sie verhungern“ ein Buch der Hoffnung.
Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 57000 Menschen sterben pro Tag an Hunger. Eine Milliarde Menschen sind permanent schwerst unterernährt. Und das auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt. Der World Food Report der UNO sagt, dass die Weltlandwirtschaft heute problemlos fast 12 Milliarden Menschen, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung, ernähren könnte.
Es gibt den strukturellen Hunger.
Das ist das tägliche Massaker. Dieser Hunger ist implizit in
der Unterentwicklung der Länder des Südens. Der unsichtbare Hunger, der jeden
Tag Menschen vernichtet aufgrund der ökonomischen Unterentwicklung. Der Hunger,
die Unterernährung und die unmittelbaren Folgen sind bei Weitem die wichtigste
Todesursache auf diesem Planeten.
Dann gibt es den
konjunkturellen Hunger.
Das ist der sichtbare Hunger. Der passiert, wenn eine
Wirtschaft plötzlich implodiert durch Krieg wie in Darfur oder durch
Klimakatastrophen wie jetzt am Horn von Afrika oder im Sahel-Gebiet. Das sind
die sogenannten Hungersnöte. Dies erscheint dann kurz im Fernsehen. Kinder in
Darfur, die sich nicht mehr auf den Beinen halten können, oder die hungernden
Mütter mit halbverdorrten Kindern auf den Armen im Niger oder in Mali. Dieser
konjunkturelle Hunger kommt zusätzlich zum täglichen Massaker.
Dazu kommen noch die Hungersnöte, und diese in immer
schnellerem Rhythmus. Dabei gibt es zu Beginn dieses Jahrtausends keinen
objektiven Mangel mehr. Wer jetzt am
Hunger stirbt, wird ermordet.
Die Mechanismen, die für dieses tägliche Massaker
verantwortlich sind, sind vielfach:
Die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel,
die EU-Dumpingpolitik in Afrika,
der Landraub,
dann die Überschuldung der meisten Entwicklungsländer, die
Investitionen in ihre eigene Landwirtschaft verhindern.
Und letztlich der Agrartreibstoff.
Unter dem Vorwand des Klimaschutzes haben zum Beispiel die
USA letztes Jahr 138 Millionen Tonnen Mais und hunderte Millionen Tonnen
Getreide verbrannt, um Bioethanol und Biodiesel herzustellen. Das ist ein Verbrechen
gegen die Menschlichkeit. Dazu kommt: Die Produktionsmethode von Bioethanol ist
total umweltschädigend. Die Herstellung eines Liters Bioethanol erfordert 4000
Liter Wasser und setzt Unmengen CO2 frei.
Finanzkrise und
Hunger in der Welt:
Dann sind die Hedgefonds und Großbanken umgestiegen auf die
Rohstoffbörsen. Sie machen dort ganz legal astronomische Profite mit Mais,
Getreide, Reis. Mit Wetten auf den Preisanstieg.
Die Finanzkrise hat zu massiver Börsenspekulation auf
Grundnahrungsmittel geführt, damit zur Preisexplosion, die weitere Millionen
Menschen zu Opfern von Hunger macht. Die zweite unmittelbare Folge der
Finanzkrise ist: Die Staaten des Westens haben Milliarden Euros und Dollars
einsetzen müssen, um ihre Banken zu retten.
Die europäischen und amerikanischen Beiträge an das World
Food Programme, das für die humanitäre Soforthilfe zuständig ist, wurden
gekürzt oder gestrichen. Das Budget des World Food Programme lag früher bei 6
Milliarden Dollar, heute sind es noch 2,8 Milliarden.
Die Konzerne diktieren ihr Gesetz auch den demokratischen
Staaten des Westens. Sie funktionieren nach Profitmaximierung. Es herrscht eine
kannibalische Weltordnung. Zehn weltumspannende Konzerne kontrollieren 85
Prozent der weltweit gehandelten Grundnahrungsmittel. Diese Konzerne
entscheiden, wer isst und lebt oder wer hungert und stirbt.
Die Frage von Leben und Tod ist die nach dem Zugang zur
Grund-Nahrung und nicht nach der Produktion der Nahrung.
„Die weltweite Getreideernte umfasst rund 2 Milliarden Tonnen
pro Jahr. Über 500.000 werden den Nutztieren der reichen Nationen verfüttert –
während in den 122 Ländern der Dritten Welt pro Tag nach UNO-Statistik
43.000 Kinder am Hunger sterben.
Diesen fürchterlichen Massenmord will ich nicht mehr
mitmachen: kein Fleisch zu essen ist ein minimaler Anfang.“
„Ein Kind, das heute am Hunger stirbt, wird ermordet.“
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