Freitag, 23. Oktober 2015

Die Macht des Mitfühlens



Arno Gruens Plädoyer für mehr Empathie

Mitgefühl und Empathie sind Begriffe, die die Debatten um die Zukunft der Menschheit bestimmen.

 "Ohne Empathie keine Demokratie", sagte Arno Gruen.

Der große alte Mann der Psychoanalyse aus Zürich, ein unerbittlicher Zivilisationskritiker, rückte die Gefühle wieder ins Zentrum des Bewusstseins.

Mit seinem Buch "Dem Leben entfremdet" lieferte er Sprengstoff für kaum noch hinterfragte Denkmuster.

Was ist das, worin wir uns bewegen?
Wirklichkeit?

Erfassen lässt sich die Welt nicht über Augen oder Verstand. Um zu verstehen, was in ihr wirkt, braucht es Empathie, Einfühlungsvermögen.

Seit Ende der 1970er Jahre war Zürich die Wahlheimat des Psychoanalytikers Arno Gruen. In Berlin wurde er als Sohn jüdischer Eltern geboren, 1936 emigrierte er in die USA. Er war ein Zivilisationskritiker, ein Außenseiter und unermüdlicher Mahner. Empathie, Mitgefühl, war sein Lebensthema. Arno Gruen lenkte das egozentrische Denken in die Richtung einer empathisch geprägten Weltsicht. Sein Werk "Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden" ist ein leidenschaftliches Plädoyer für Empathie - pur, radikal und irgendwie zärtlich.


Der Mensch ist von Anfang an gut. "Jeder Mensch ist sein eigener Gott", sagte Arno Gruen. Empathie ist eine angeborene Fähigkeit. Liebe und Wärme braucht es, um sie zu erhalten. Aber bei uns im Westen drängen wir das Empathische systematisch zurück, machen die Kinder zu funktionierenden Rädchen eines Systems. "Wir leben in dieser Kultur, die mit Wettbewerb zu tun hat", so Gruen. "Da erleben wir auch Kinder, als ob sie uns etwas aufsetzen möchten. Der Wettbewerb existiert da schon. Wenn sie schreien, müssen wir ihren Willen in den Griff kriegen - und wir lassen sie schreien. Es gibt viele Kulturen, in denen die Kinder nie schreien." Die natürlich angeborene Empathie geht durch kulturelle Einflüsse in den ersten Jahren verloren. Gruen warf ein neues Licht auf die kaum mehr hinterfragten Grundprinzipien dieser Kultur.


Aber nicht Kampf und Konkurrenz sind die Triebkräfte unserer Existenz.

"Dass wir uns als Menschen entwickelten, kam zustande durch Kooperation, nicht durch Wettbewerb", so Gruen. "Es kam dadurch zustande, dass Menschen sich einander geholfen haben - nicht dadurch, dass der Stärkere, den Nicht-Starken unterdrückte."

Empathie ist nicht nur die Grundvoraussetzung für seelische Gesundheit, sondern auch für Demokratie. Die Welt aus der Sicht eines anderen zu sehen - das haben wir verlernt, das macht uns krank.

Doch es formieren sich neue soziale Bewegungen. Die Kritik an der klaffenden Schere zwischen Arm und Reich wächst. Empathie hat politische Dimensionen.


Nach Gruen leben wir in einer durchkonstruierten Welt - unfähig, mitfühlend die Wirklichkeit wahrzunehmen. "Freiwillige Knechtschaft" wurde das auch schon genannt. Dagegen kämpfte Gruen. "Kreativität ist das Wichtige und nicht Gehorsam. Gehorsam engt uns ein", sagte er. Er führe dazu, dass wir genauso werden, wie die, die Macht über uns haben. Und es verewige dieses System.

"Das Wichtige sind die wahren Künstler, die wahren kreativen Menschen. Ihre Kreativität ist immer der Versuch, aus dem Gefängnis dieser Kulturen auszubrechen. Es ist ein dauernder Kampf, aber man muss weiterkämpfen. Es ist nicht vergeblich."

Arno Gruen starb im Alter von 92 Jahren in Zürich, wie der Verlag Klett-Cotta gegenüber Kulturzeit am 22. Oktober 2015 bestätigte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen