Ein Plädoyer für
Tierrechte
Wir ignorieren das
Offensichtliche
Es fällt schwer,
für Tierrechte zu werben in diesen Zeiten, in denen bereits die Menschenrechte
so fragil scheinen wie lange nicht mehr.
Dreitausend Menschen sind in dem
ersten Halbjahr 2016 im Mittelmeer ertrunken; ihre Menschenrechte auf Leben,
Zuhause, Sicherheit blieben leider ungeschützt. Sogar der Konsens des
Gewaltverzichts, der für die europäische Moderne gleichsam zum
identitätsstiftenden Merkmal geworden ist, scheint vielerorts gebrochen. In
Grossbritannien wird auf offener Strasse eine Politikerin ermordet,
Terroranschläge erschüttern Frankreich, die Türkei und auch Deutschland, wo
zudem Flüchtlingsheime brennen. Es ist, als begänne eine Lust am Quälen und
Töten ihre Fesseln abzustreifen, als bräche der dünne Firnis der Zivilisation
auf.
Wieso nun sollen
wir Tiere schonen, wenn wir nicht einmal den Mitmenschen unangetastet lassen?
Müsste man nicht hoffen, die Menschheit werde zunächst die Rechte anderer
Menschen respektieren, bevor man sich dem Wohl und Wehe der befellten,
befiederten und geschuppten Mitbewohner unseres Planeten widmen kann?
Keine
To-do-Liste
Solche Fragen sind
beliebt bei klassischen Humanisten, die Bedenken äussern: Wenn man den Tieren
Aufmerksamkeit schenke, fehle sie für den Menschen. Allerdings essen die
meisten dieser Bedenkenträger Fleisch und nutzniessen bequemerweise in vielen
anderen Lebensbereichen, ob bewusst oder unbewusst, vorsätzlich oder nicht, von
unserer Herrschaft über die Tierwelt. Doch auch gestandene Tierrechtler und
Veganer haben dieser Tage bisweilen Zweifel, welche Ungerechtigkeit sie denn am
besten zuerst angehen sollten.
Aus Sicht der
politischen Philosophie stellt sich hier ein interessantes Problem. Bereits in
anderen Kontexten und Situationen wurde darüber debattiert, welche Ungerechtigkeit
mit welcher anderen ursächlich zusammenhänge. Manche der alten Fragen muten aus
heutiger Sicht unendlich naiv an, zum Beispiel jene marxistische: Muss zuerst
«der Arbeiter» befreit werden oder «die Frau»? Eine klare Präferenzliste lässt
sich ja nur mit sehr gefestigtem ideologischem Weltbild postulieren. Stamme
eine solche Weltanschauung nun von Marx oder von Hegel – sie wirkt selbst wie
ein Stück unaufgeklärter Metaphysik. Denn es gibt nun einmal keine kosmisch
definierte To-do-Liste der Weltverbesserung. Über den Wolken oder hinter den
Kulissen sitzt keiner, der einen Plan für den Fortschritt entworfen hätte, den
wir nur zu erraten und zu befolgen hätten.
Es existiert auch keine allgemeine Formel, mit der sich ausrechnen liesse, was
«am dringendsten» getan werden müsse. Niemand würde einer
westeuropäischen Gewerkschafterin vorhalten, es sei falsch, dafür zu streiten,
dass Männer und Frauen für gleiche Arbeit gleich bezahlt werden – obwohl in
anderen Teilen der Welt weder Männer noch Frauen halbwegs angemessenen Lohn
erhalten. Genauso wenig lässt sich sagen, Gerechtigkeit für uns (über sieben
Milliarden) Menschen sei unbedingt wichtiger und dringender als Gerechtigkeit
für die fünfundsechzig Milliarden jährlich geschlachteten Tiere. Wir würden
Dringlichkeit, Aufwand, Leid, Kosten, Effektivität gern irgendwie verrechnen –
doch so funktioniert die Welt eben nicht. Für Not und Hilfe gibt es keine
einheitliche Währung, schon gar nicht in der Ethik.
Was tut die
Philosophie, wenn sich ihre eigenen Werkzeuge, namentlich Präzision und
Konsistenz, als nicht hinlänglich hilfreich erweisen? Sie sucht Zuflucht in der
Pädagogik. Immanuel Kant vermochte sich bekanntlich nicht dazu durchzuringen,
das Tier – wie den Menschen – als «Zweck an sich», als Wesen, das um seiner
selbst willen existiert, zu klassifizieren, weil er es dafür im Rahmen seiner
Philosophie als vernunftbegabte Person hätte anerkennen müssen. Genauso wenig
aber liess sich Tierquälerei als völlig irrelevant abtun. Und so argumentierte
Kant quasi pädagogisch, es tue dem menschlichen Charakter selbst nicht gut,
wenn wir uns ans Tiere-Quälen gewöhnten. (Eine These, die empirisch nicht ganz
so leicht belegbar ist, wie sie intuitiv einleuchtet; doch neuere
Untersuchungen scheinen sie eher zu bestätigen.)
Aber Hand aufs
Herz: Dies ist kaum der einzige Grund, warum es falsch ist, zum Beispiel einen
Hund zu treten. Die meisten Menschen würden zusammenzucken, wenn in ihrer
Gegenwart jemand ohne Not einen Hund verletzte; und ihre Begründung, warum man
dies nicht tun solle, ruht auf derselben ethischen Basis wie der Grund für das
Gebot, Menschen nicht zu drangsalieren oder zu verletzen. Ebendarum sagt man zu
einem Kind: «Tu das nicht, das tut dem Hund weh!» – oder: «Die Katze mag es
nicht, wenn du sie am Schwanz ziehst.» Es ist dies freilich ein ethisches
Argument, das sofort vergessen wird, wenn es um Fisch, Pute oder Schwein geht. Denen tut es aber natürlich auch weh – so, wie wir sie
behandeln, und sie schätzen es auch nicht, eingepfercht zu sein,
ihrer Freiheit beraubt, ihres Nachwuchses, der Bewegung wie der ungestörten
Ruhe; transportiert, markiert, malträtiert und schliesslich gewaltsam getötet
zu werden. Vielerlei Hilfskonstruktionen, begriffliche Konzepte und – man darf
ruhig sagen: – Ideologien helfen uns, das Offensichtliche zu ignorieren. Also
das Leid des Schweins, das mit der eigenen Gülle eingesperrt ist, auszublenden,
wiewohl wir dieselbe Behandlung einer Katze als Tierquälerei anzeigen würden.
«Haustier»
und «Nutztier»?
Die Katze
allerdings ist ein von uns persönlich geliebtes Tier, wir nennen es «Haustier».
Das Tier im landwirtschaftlichen Stall hingegen «ist nur ein Nutztier», es
«wurde dazu gezüchtet» . . . Doch wer bestimmt das? Geht diese Unterscheidung
nicht auf den Sklavenhalter zurück, der seine lebenden Besitztümer selbstherrlich
einteilt in einige, die zum Streicheln, und andere, die zum Dienen da sind?
Und so müsste man
aus moralphilosophischer Sicht, wenn man nun Gelegenheit hätte, sich mit Kant
zu unterhalten, denselben darauf hinweisen, dass sein pädagogisches Behelfsargument
nicht nur etwas dürftig ist, sondern die von ihm proklamierte Moral selbst
nicht ernst genug nimmt. Denn besorgniserregend ist nicht nur die Verrohung, an
die sich der Tierquäler gewöhnt; bereits der Tierkonsument, der ja selbst nicht
aktiv Leid zufügt, gewöhnt sich daran, ohne stichhaltige Gründe Grenzen zu
errichten, um seine Bequemlichkeit nicht zu erschüttern: Grenzen zwischen «uns»
und «ihnen», Grenzen zwischen denen, die das Privileg geniessen, berücksichtigt
zu werden, und jenen, die gleichgültig oder zumindest zweitrangig sind. Schon
das läuft dem zivilisatorischen Projekt Gewaltverzicht und Moral zuwider.
Wir lernen, uns mit
Schablonen und Ausweichmanövern zufriedenzugeben («Ist nur ein Tier»), wo wir
eigentlich lernen sollten, dem ethischen Argument Raum zur Universalisierung zu
geben: Was für unseren Wunsch gilt, am Leben zu bleiben, gilt ebenso für die
uns verwandten Tiere. Wir lernen auch – ob auf Tierhaut-Sofas oder beim
Grillieren –, über tote Körper hinwegzusehen und Lebewesen zu bloss materiellen
Dingen zu degradieren. Wir lernen, einige Lebensbereiche auszugliedern aus dem
Bereich moralischen Handelns und zu behaupten: «Ich darf essen, was ich will.»
Doch endet die
Freiheit der rein privaten Entscheidung da, wo es um Dritte geht, die durch
unser Tun in Mitleidenschaft gezogen werden. Kaufen, sexuell verkehren, essen –
all dies sind zunächst Tätigkeiten, bei denen das bürgerliche Individuum frei
ist. Doch ist für tierische Nahrungsmittel ebenso wie für Textilien aus
Kinderarbeit und für Zwangsprostitution das Leid anderer Voraussetzung; und
darum sind wir in diesen Fällen eben nicht «frei», zu konsumieren – solches Tun
ist nicht mehr rein «privat».
Strenggenommen muss
man sogar sagen: Die eigene Freiheit wird gar nicht dadurch beschnitten, dass
wir den anderen ihre Rechte, ihr Leben, ihre Körper lassen. In anderen Fällen
als beim Essen des Tiers ist uns das auch bereits zur Genüge klar: Wer würde
sagen, dass seine Freiheit darunter leide, dass er nicht auf dem Markt
Menschensklaven kaufen und mit der Peitsche auf seinen Acker treiben darf? Wer
würde sagen, es beschneide die Freiheit eines Betrunkenen, auf dem Heimweg von
der Kneipe nicht irgendeine Frau vergewaltigen zu dürfen? Damit ist nur die
Zahl des moralisch Möglichen verringert – nicht aber die menschliche Freiheit.
Wir
können nur gewinnen
Mit diesen
Vergleichen sind wir wieder am Anfang angelangt: Darf man das, also die Rechte
der Tiere mit denen von Menschensklaven, von sexuell missbrauchten Frauen, von
hungernden Kindern vergleichen? Ja, man darf – und man sollte sogar! Genauso
wenig, wie das Universum eine klare To-do-Liste in der Hinterhand hält, kennt
es die absolute Unterscheidung zwischen Wohl und Wehe der Menschen hier und der
Tiere dort. Wir sind Verwandte, spätestens seit Darwin wissen wir das. Doch
sosehr wir auch über Darwins Zeitgenossen schmunzeln, die es empörend fanden zu
hören, dass sie von einem Affen abstammen – moralisch gesehen tun wir immer
noch so, als stehe der Mensch ganz vereinzelt da in dieser Welt.
Diese Empörung «Man darf doch das Elend der Tiere nicht mit dem der Menschen
vergleichen!» entspricht genau jener Empörung aus der Zeit der darwinschen
Aufklärung. Aus ihr spricht der reine Hochmut.
Doch moralisches
Handeln erfordert, Grenzen dort abzubauen, wo sie sich vernünftig nicht stützen lassen; vom
Hochmut und von unverdienten Privilegien abzulassen. Genau wie bei den obigen
Beispielen werden wir dann feststellen: Unsere
Freiheit wird gar nicht beschnitten, wenn wir die Rechte der Tiere achten. Wir
mögen ein paar Zutaten beim Kochen verlieren, doch als Menschen können wir
dabei nur gewinnen.
Hilal Sezgin ist
Philosophin und lebt als Schriftstellerin und Publizistin mit einer Menge
Schafe und sonstiger Tiere in der Lüneburger Heide. Kürzlich ist ihr Buch
«Wieso? Weshalb? Vegan! Warum Tiere Rechte haben und Schnitzel schlecht für das
Klima sind» (Verlag S. Fischer) erschienen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen