Tiere und Emanzipation
05 Dez 2013
Streifzüge 59/2013
von Matthias Rude:
von Matthias Rude:
Die Solidarität mit Tieren und der Gedanke, dass als
Voraussetzung zur Verwirklichung einer wahrhaft emanzipierten Gesellschaft auch
sie aus den Ausbeutungsverhältnissen zu befreien sind, in denen sie zu leben
gezwungen werden, hat eine gewisse Tradition, die viel weiter zurückreicht als
gemeinhin angenommen; allerdings handelt es sich bei dieser Geschichte der
Tierbefreiung bislang um ein Stück „geheime“ – vergessene, verdrängte –
Geschichte.
Die geheime
Geschichte der Tierbefreiung
Die Stimmen jener Menschen, die innerhalb linker
Bewegungen für die Sache der Tiere eingetreten sind, wurden in einem doppelten
Sinne nicht gehört: Wie Marx und Engels in Die deutsche Ideologie (1845/46)
treffend bemerkten, ist das, was als die herrschenden Gedanken einer Epoche
erinnert wird, in erster Linie ein Widerschein der Gedanken der in ihr
herrschenden Klasse, da diese mit den Mitteln zur materiellen auch über jene
zur geistigen Produktion verfügt und also damit die spätere Erinnerungskultur
bestimmt, sodass die Rekonstruktion widerständiger Geschichte sich ohnehin
schon in weiten Teilen als schwierig erweist.
Hinzu kommt, dass meist ein Großteil derjenigen, die in
den verschiedenen emanzipatorischen Bewegungen an der Seite von
Persönlichkeiten aktiv waren, welche auch für die gesellschaftliche Befreiung
der Tiere eintraten, die Tiere in der menschlichen Gesellschaft nicht als
Leidensgenossen an- oder auch nur erkannt haben. Nicht ohne Grund liegt in der
von Max Horkheimer mit der Metapher eines Wolkenkratzers aphoristisch
beschriebenen kapitalistischen Gesellschaftspyramide die „Tierhölle“ im Keller
– an anderer Stelle spricht er von den „Verliesen des Gesellschaftsbaus“ – und
befindet sich damit unterhalb des gesamtgesellschaftlichen Bewusstseins.
Dass die Solidarität mit Arbeitstieren als ebenfalls
Ausgebeuteten, dass der Verzicht auf Lebensmittel und Rohstoffe, die durch sie
oder aus ihren Körpern hergestellt werden, als bewusste Zurückweisung des
Status von Tieren als Produktionsmitteln und Waren bereits seit den Anfängen
der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaftsformen als integrales Element
revolutionärer Theorie und Praxis fungieren konnte, ist noch immer weitgehend
unbekannt.
Ebenso unbekannt ist, dass zahlreiche Verbindungen und
Wechselwirkungen zwischen der ersten Tierrechtsbewegung im 19. und frühen 20.
Jahrhundert und etwa der Arbeiter-, Frauen- und Friedensbewegung bestanden,
sowie dass es zahlreiche Thematisierungen des Ausbeutungsverhältnisses
gegenüber den Tieren im klassischen linken Literaturkanon gibt.
Befreiung hört
nicht beim Menschen auf
Dabei liegt diese Verbindung eigentlich auf der Hand,
sieht doch die Bewegung zur Befreiung der Tiere ihre Forderungen traditionell
als logische Fortsetzung, Konsequenz und Erfüllung der großen emanzipatorischen
Imperative. Die Geschichte zeigt, dass diejenigen Menschen, die sich
organisierten, um eine Verbesserung der elenden Situation der Tiere in der
menschlichen Gesellschaft zu bewirken, auch Teil anderer Befreiungskämpfe waren
– sie stritten etwa gegen monarchische Willkürherrschaft, für Menschenrechte,
gegen die Sklaverei, für die Emanzipation der Frauen, für die Belange der
lohnabhängigen Massen oder waren im antifaschistischen Widerstand aktiv.
Aber sie gingen
weiter, für sie war klar: Befreiung hört nicht beim Menschen auf.
Angesichts der Erkenntnis, dass der Versuch unserer
Kultur, eine unantastbare Autorität gegenüber der wilden Natur auszuüben, uns
in eine Katastrophe geführt hat, welche die menschliche Gesellschaft an den
Rand des Untergangs bringt, wird mehr und mehr Menschen bewusst, dass die
Entwicklung eines anderen Verhältnisses zur Natur und zu den Tieren für die
menschliche Gesellschaft dringend notwendig ist – allein schon, um unser
eigenes Überleben zu sichern, und erst recht für die Verwirklichung des
emanzipatorischen Projektes.
Herbert Marcuse sprach deshalb 1972 von der „Befreiung
der Natur als Mittel der Befreiung des Menschen“ und war überzeugt: „Was
gegenwärtig geschieht, ist die Entdeckung (oder vielmehr die Wiederentdeckung)
der Natur als einer Verbündeten im Kampf gegen die ausbeuterischen
Gesellschaften, in denen die Vergewaltigung der Natur die Vergewaltigung des
Menschen verschärft.
Die Entdeckung der befreienden Kräfte der Natur und ihrer
entscheidenden Rolle beim Aufbau einer freien Gesellschaft wird zu einer neuen
Kraft gesellschaftlicher Veränderung.“
Hat Solidarität
unter Menschen Vorrang?
Mitunter wird allerdings die Frage aufgeworfen, ob man
denn nicht hinsichtlich der Befreiung des Menschen und jener anderer Tiere dem
Menschen absolute Priorität einräumen müsse. Obschon er sich keine freie
Gesellschaft vorstellen konnte, „zu deren ,regulativen Ideen der Vernunft‘
nicht der gemeinsame Versuch gehörte, die Leiden, welche die Menschen den
Tieren zufügen, folgerichtig zu verringern“, meinte selbst Marcuse in
Konterrevolution und Revolte (1972): „Angesichts des Leids, das Menschen von
Menschen zugefügt wird, erscheint es unverantwortlich ,verfrüht‘, sich für
universellen Vegetarismus oder synthetische Nahrungsmittel einzusetzen;
angesichts der gegenwärtigen Welt hat menschliche Solidarität unter Menschen
unbedingten Vorrang.“ Bereits 1965 schrieb er allerdings: „Dass die Gewalt
beseitigt und die Unterdrückung so weit verringert wird, als erforderlich ist,
um Mensch und Tier vor Grausamkeit und Aggression zu schützen, sind die
Vorbedingungen einer humanen Gesellschaft.“
Das Streben nach der Befreiung der Tiere und der Wunsch,
die Menschheit zu emanzipieren, verfolgen gar keine unterschiedlichen Ziele
oder Interessen; sie lassen sich nicht gegeneinander ausspielen, im Gegenteil
hängen sie eng miteinander zusammen. Vielen Freiheitskämpfern früherer Zeiten
erschien das als vollkommen klar.
„Aber es hängt
alles zusammen“
Die große Revolutionärin und Kämpferin in der Pariser
Kommune Louise Michel etwa beschrieb als den wesentlichen Antrieb ihres
politischen Aufbegehrens stets das Gefühl der Verbundenheit, der Solidarität –
auch und gerade mit den Schwächsten und Wehrlosesten: „Im Kern meiner Empörung
gegen die Starken finde ich, so weit ich zurückdenken kann, meinen Abscheu
gegen die Tierquälerei wieder“, heißt es in ihren Memoiren (1886) und weiter:
„Von der Zeit, da ich auf dem Land die Grausamkeiten gegen die Tiere erlebte
und das entsetzliche Bild ihrer Lebensbedingungen erfasste, stammt mein Mitleid
für sie und dadurch mein Bewusstsein über die Verbrechen der Macht. So handeln
die Führenden mit den Völkern! Ich konnte nicht umhin, diese Überlegung
irgendwann anzustellen.“
Zu ihrem Klassenstandpunkt gelangte sie durch die
unmittelbar erlebte Not der Bauern und die Qual der Tiere: „Was die Reichen
betrifft, so hatte ich für sie wenig Achtung; und da kam mir der Kommunismus in
den Sinn. Die harte Feldarbeit sah ich so, wie sie ist: sie beugt den Menschen
wie den Ochsen über die Furchen; das Schlachthaus steht für das Tier bereit,
wenn es verbraucht ist; der Bettelsack für den Menschen, wenn er nicht mehr
arbeiten kann.“
Auch Michel hat man oft vorgeworfen, dass sie mehr Sorge
für die Tiere als für die Menschen empfinde – ihre Antwort auf solche
Anschuldigungen war:
„Aber es hängt alles zusammen, von dem
Vogel, dessen Nest man zertritt, bis zu den Nestern der Menschen, die der Krieg
dezimiert. Das Tier krepiert vor Hunger in seinem Loch, der Mensch stirbt daran
in fernen Gegenden. Und das Herz des Tieres ist wie das Menschenherz, sein
Gehirn ist wie das des Menschen, nämlich fähig zu fühlen und zu begreifen. Man
mag noch so sehr darauf treten, die Wärme und der Funke darin erwachen immer
wieder. Bis zur Blutrinne des Laboratoriums vermag das Tier Liebkosungen oder
Grausamkeiten zu empfinden.“
Naturbeherrschung
schließt Menschenbeherrschung ein
Über lange Zeit handelte es sich bei solchen Positionen
innerhalb der Linken eher um randständige. Marx und Engels bedachten die
Ausbeutung der Natur durch den Kapitalismus zwar bereits in gewisser Weise mit,
stellten sie aber keineswegs ins Zentrum ihrer Gesellschaftstheorie; erst ab
den 1940er Jahren richteten bedeutende marxistische Theoretiker im Westen ihren
Fokus darauf: Die Vertreter der Kritischen Theorie, vor allem Horkheimer,
Adorno und Marcuse.
Nimmt man ihre – historisch-materialistische –
Perspektive ein, die von den großen zivilisatorischen Katastrophen des 20.
Jahrhunderts geprägt ist, so sieht man, dass die Geschichte der Anstrengungen
des Menschen, über die Natur und die Tiere zu herrschen, auch die Geschichte
der Herrschaft des Menschen über den Menschen ist, und dass die Befreiung von
Mensch und Tier sich gegenseitig bedingen – oder, wie Max Horkheimer sich in
Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1967) ausdrückte: „Der Mensch teilt im
Prozess seiner Emanzipation das Schicksal seiner übrigen Welt. Naturbeherrschung
schließt Menschenbeherrschung ein. Jedes Subjekt hat nicht nur an der
Unterjochung der äußeren Natur, der menschlichen und der nichtmenschlichen,
teilzunehmen, sondern muss, um das zu leisten, die Natur in sich selbst
unterjochen.“
Deshalb war für ihn der Kampf für das Tier auch ein Kampf
für den Menschen.
Moshe Zuckermann, einer der bedeutendsten lebenden
Vertreter der Kritischen Theorie, fasst diese Perspektive folgendermaßen
zusammen: „Die Beherrschung der äußeren Natur geht zwangsläufig mit der
Beherrschung der inneren einher, was wiederum die determinierende Grundlage für
die soziale Herrschaft des Menschen über den Menschen generiert.“
Nicht nur gründet also, wie in der Wolkenkratzer-Metapher
Horkheimers, der gesamte kapitalistische Gesellschaftsbau, den Adorno 1963 als
eine große „Aktiengesellschaft zur Ausbeutung der Natur“ bezeichnet, auf dem
Leiden der Tiere, die Herrschaft über sie ist auch in vielfältiger Art und
Weise mit der Herrschaft des Menschen über den Menschen verbunden, weshalb die
auf die Befreiung des Menschen zielenden Emanzipationsbewegungen nicht zum Ziel
führen können, solange sie diesen Aspekt ausblenden.
Der italienische marxistische Philosoph Marco Maurizi
schreibt hierzu, die ganze Geschichte der Zivilisation finde in der Sklaverei
der Natur ihren Ursprung und in der menschlichen Sklaverei ihre logische
Fortsetzung: „Die verwaltete Welt, die wir heute erleben, ist die Vollendung
jener ursprünglichen Gewalt. Die Unterdrückung der Tiere ist nicht nur Teil der
Geschichte der Freiheit, sondern auch unserer eigenen Sklaverei. Die Gewalt,
die wir gegen Tiere übten, schlägt gegen uns um“ – sie sollte also nicht nur
zum Wohl der Tiere, sondern auch zu unserem eigenen überwunden werden.
Keine Argumente
für Speziesismus
Als Speziesismus wird seit den 1970er Jahren jene
Ideologie bezeichnet, welche diese institutionalisierte Gewalt, die tagtäglich
gegen Tiere verübt wird, weiterhin legitimiert, obwohl die Entwicklung der
Produktivkräfte inzwischen einen Stand erreicht hat, der es ohne Weiteres
ermöglichen würde, auf die traditionell in der westlichen Kultur verankerte
Tierausbeutung und das damit verbundene Leid zu verzichten.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Ideologie längst
unhaltbar geworden. Volker Sommer, Inhaber des Lehrstuhls für evolutionäre
Anthropologie am University College in London und einer der renommiertesten
Primatenforscher weltweit, fordert Grundrechte für unsere nächsten
evolutionären Verwandten und spricht in Interviews davon, dass der historische
Moment gekommen sei, um nach Nationalismus, Rassismus und Sexismus auch den
Speziesismus zu überwinden.
Gerechtfertigte Argumente für die Aufrechterhaltung der
Ausbeutung der Tiere gibt es nicht, so wie es in vergangenen Jahrhunderten
keine gerechtfertigten Argumente gegen die Befreiung der Sklaven gab. Man kann
davon ausgehen, dass jene Kräfte, die sich angesichts der wissenschaftlichen
Erkenntnisse über Tiere, die wir heute haben, noch gegen deren Befreiung
stellen, von nachfolgenden Generationen so angesehen werden, wie wir heute auf
die Verteidiger der Sklaverei zurückblicken.
Wenn die Linke nicht auch auf diesem Feld den Kampf
aufnimmt, wird sie hinter dort tätige bürgerliche Bewegungen zurückfallen und
die Chance preisgeben, eine wahrhaft befreite Gesellschaft zu erreichen – denn
wenn sie kein anderes Verhältnis zur unterdrückten Natur und zu den Tieren
entwickelt, können die Emanzipationsbewegungen nicht zum Erfolg führen.
Es gilt: Tierbefreiung ist Voraussetzung und Resultat der
Emanzipation des Menschen.
* Vom Autor ist der Titel „Antispeziesismus“ in der
theorie.org-Reihe des Stuttgarter Schmetterling-Verlags erschienen.
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